Allgemeine Beobachtungen zur Überlieferung der Vorauer Handschriften


Von den 416 bei Fank katalogisierten Handschriften sind insgesamt 81 Liturgica, etwas weniger als 20%. Dazu zählen 12 neumierte Handschriften, 17 mittelalterliche und 4 neuzeitliche Codices mit Liniennotation, sowie 48 nicht notierte Quellen. Nicht mitgezählt sind hier Bibeln und Homiliare. Bei letzteren ist der liturgische Gebrauch zwar anzunehmen, sie erfüllten aber vielfach auch den Zweck von Studienbüchern. Die über 40 hier angeführten notierten Fragmente gehören alle zu den Handschriften, nicht erfasst sind in dieser Aufzählung allfällige Fragmente in Inkunabeln oder in gedruckten Büchern des Altbestandes der Bibliothek.


Bei den adiastematischen Handschriften fällt auf, dass sich eine größere Gruppe von Codices aus der Gründerzeit des Klosters erhalten hat. Die ersten fünf Quellen der Liste repräsentieren in jedem Fall einen liturgischen Status, welcher der Normierung durch den Salzburger Liber Ordinarius (A-Su M II 6) vorausgeht. Die wesentlichen Buchgattungen wie Missale und Brevier sind hier vertreten, sodass man sich ein runderes Bild von der Liturgie und ihrer Musik in der Gründerzeit machen kann, als dies etwa in vergleichbaren Stiften wie Seckau der Fall ist, wo sich kein einziges Antiphonar erhalten hat, wohl aber eine Vielzahl von Missalien. Gründlichere Studien zur liturgischen Überlieferung existieren noch nicht, wohl aber ist die Notation des ältesten Missale untersucht worden. Auffällig ist das Vorhandensein mehrerer Passauer Breviere, was vielleicht zunächst einmal mit einer gewissen Nähe des Liber Ordinarius Codex 99 zu einzelnen Passauer Gewohnheiten erklärt werden könnte. Selten ist die Überlieferung von Lamentationen, die hier aber nicht in einem liturgischen Buch stehen, sondern in einer Sammelhandschrift. Im Unterschied zu Seckau, wo der Liber Ordinarius von 1345 (A-Gu 756) noch mit sehr späten adiastematischen Neumen notiert ist, ist in Vorau eine Neumennotation nach der zweiten Hälfte des 13. Jhs. nicht mehr nachweisbar.


Im Regelfall sind die diastematisch notierten Codices in Vorau – wie landesüblich – in gotischer Notation gehalten. Sie repräsentieren das gesamte Spektrum einer liturgisch-musikalischen Entwicklung von etwa 350 Jahren – von der Mitte des 13. Jhs. bis zum Ende des 16. Jhs. Dabei fällt auf, dass es im Bereich der Augustiner-Chorherren in der Salzburger Erzdiözese kaum Handschriften des 16. Jhs. gibt. Die Produktion bzw. Anschaffung von Liturgica kam bald nach 1500 offenbar zum Stillstand. Wenn man die deplorablen Zustände der Klöster am Vorabend der Reformation und bis zur Gegenreformation und katholischen Erneuerung in Betracht zieht, vermag dies nicht zu verwundern. Das gemeinsame Chorgebet ist oftmals auch aus Personalmangel zum Stillstand gekommen. Eine Erneuerung des klösterlichen Lebens war – nicht ursächlich – auch mit der Übernahme des römischen Ritus und seiner Bücher verbunden. Neben den notierten Psalterien samt Hymnar aus dem 13. und 15. Jh. sind es zwei große Antiphonare des 14. Jhs., welche die Fülle der Gesangspraxis der Tagzeitenliturgie repräsentieren und auch die schon genannten liturgischen Reformen nach der Mitte des 14. Jhs. aufzeigen, die Codices 287 und 259. Von besonderer Bedeutung für das lokale Vorauer Profil innerhalb der großen Salzburger liturgischen Tradition sind das Cantatorium Codex 22 und das Antiphonale Codex 253, welches einen Ergänzungsband mit den Eigenoffizien – zahlreiche in Salzburg unbekannte bzw. nicht verwendete Historiae – zu den „großen“ Antiphonaren darstellt. Freilich enthält auch schon das Antiphonar Codex 287 zahlreiche dieser besonderen Historiae, sei es im Stammteil der Handschrift oder in den diversen Anhängen. Diese Offizien korrespondieren mit dem „Ergänzungsband“ Codex 253. Der Codex 22 ist eine Sammlung mit den herausragenden (Kantoren-) Gesängen des Kirchenjahres. Dazu gehören z.B. die Tropen zum Weihnachtsresponsorium Descendit de caelis: Missus ab arce usw. Wir finden die Lamentationes der Trauermetten mit den weit ausladenden E-Melodien, den Mettenschluss in lokaler Variante, die Visitatio sepulchri (nach dem Passauer Typus) und zahlreiche der großen Hoheliedantiphonen, die auch zum Sondergut des Codex 287 gehören. Der Messgesang des 15. Jhs. ist mit einem Graduale und einem Sequentiar hinreichend dokumentiert. Letztere zwei Bücher stellen ein vergleichbares Gegenstück zum Seckauer „Graduale Magnum“ um 1490 dar (A-Gu 17), das die dortige Praxis der Messliturgie umfangreich dokumentiert. Die überlieferten Missalien dieser Zeit enthalten üblicherweise nur notierte Präfationen, diese aber meist in mehreren Fassungen.


Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die richtige Einordnung und Qualifikation der notierten Liturgica sind die Handschriften für Messe und Offizium ohne Notation, seien sie vollständig oder diverse nach unterschiedlichen Gesichtspunkten angelegte Auszüge aus Missale oder Brevier. Eine gesungene Liturgie ist letztlich ohne diese Bücher auch nicht annähernd vollständig rekonstruier- und beschreibbar. Es gibt wohl kaum ein Stift, aus dem dermaßen viele Breviere – vor allem aus dem 15. Jh. – in die heutige Zeit überkommen sind. Viele diese Quellen sind in Vorau selbst geschrieben worden, sodass sie eine besondere Nähe zu und Übereinstimmung mit den musikalischen Quellen aufweisen. Wir haben daher in einer eigenen Liste diese Codices anhand des Katalogs und teilweise eigener Autopsie ausgewiesen, weil sie letztlich mit den notierten Quellen zusammen ein großes Ganzes bilden. Die Breviere enthalten all jene Stücke, die per se nicht in einer notierten Handschrift aufscheinen: Lesungen, Gebete, Zusätze, detaillierte Rubriken und sonstige Hinweise zur Ausführung bzw. zu lokalen Besonderheiten. Wichtig für die Vollständigkeit eines Gottesdienstes sind auch solche Details wie der (neunmal verschiedene) Lesersegen in der Matutin, welcher sich entweder in den Brevieren oder in diversen Orationalien – Büchlein für die Hand des liturgischen Vorstehers – befindet. Das immer Wiederkehrende, das „Selbstverständliche“ bzw. auswendig Gewusste ist ja selten aufgezeichnet. Im großen Fundus der Vorauer Quellen wird man auch bei diesen Fragen fündig, weil irgendwo – aus welchen Gründen wissen wir nicht – ein Schreiber auch einmal das „Gewöhnliche“ aufgezeichnet hat. Neben den in Vorau selbst geschriebenen Brevieren sind zahlreiche Codices dieser Gattung für Stiftspfarren bestimmt gewesen oder aufgrund von Schenkungen oder Erbschaften ins Kloster gekommen. Diese Quellen bieten einen unerschöpflichen Schatz an Material zu Studien über die spätmittelalterliche Salzburger Liturgie, in einem weit größeren Umfang als an anderen Orten, vor allem aber in Salzburg selbst, wo sich nur wenige liturgische Quellen des Domes in diversen Bibliotheken erhalten haben. Ein besonderes Kapitel sind die nicht wenigen Handschriften, die ausschließlich die so genannten Zusatzoffizien (z.B. Officium parvum BMV, Totenofficium, Zusatzgebete wie die Trina oratio usw.) enthalten. Grundlegend für die liturgische Ordnung eines Hauses sind die Libri Ordinarii, von denen es neben dem notierten (Codex 99) auch zwei nicht notierte gibt, sodass das Stift Vorau zu den wenigen Orten zählen kann, deren mittelalterliche Liturgie und liturgische Musik ohne wesentliche Lücken dokumentiert ist.




A-VOR 21, Missale XII-2: Ex ore infantium,
deutsche Neumen mit Angaben von Halbtönen



A-VOR 22, Cantatorium XV: Lamentationen, Beginn



A-VOR 99, Liber Ordinarius nach 1200: Montag und Dienstag in der Karwoche.
Am Rand: Psalmtondifferenzen



A-VOR 253, Antiphonale Voraviense, Historiae, Mitte XV:
Beginn Thomas-Offizium



A-VOR 254, Graduale Vorau 1454: Nos autem gloriari
mit barocker Textbearbeitung für das Franziskusfest



A-VOR 259, Antiphonale Böhmen-Vorau, XIV und 1496:
Trinitatis-Antiphon mit späterer Kontrafazierung



A-VOR 287, Antiphonale XIV-1: Psalmodiemodelle



A-VOR 332, Missale um 1270:
deutsche Neumen 13. Jh., Tropus zum 3. Weihnachtsintroitus