Die Projekte CANTUS-Datenbank und CANTUS-Index zeigen, dass Kurzinventare der Texte und Melodien von Gesängen eine wichtige Voraussetzung für die Dokumentation und Erschließung mittelalterlicher Musikhandschriften darstellen. Ein wesentlicher Nachteil des derzeitigen Inventarisierungs- und Referenzierungsverfahrens ist jedoch die Art und Weise der Datengenerierung: Diese Aufgabe muss derzeit von WissenschaftlerInnen manuell durchgeführt werden. Aufgrund dieser mühsamen Aufgabe steht der musikwissenschaftlichen Forschung nur ein sehr begrenzter und unvollständiger Datenbestand für tiefergehende Analysen zur Verfügung. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, müssen sowohl die Quantität als auch die Qualität der Daten deutlich verbessert werden.


Neuere Ansätze der Digitalen Geisteswissenschaften und der Informatik erlauben es, diese fehleranfällige und zeitaufwändige Methode zu automatisieren. Technologische Fortschritte in der Handschriften- und Notationserkennung ermöglichen es, den Inhalt der digitalisierten Musikmanuskripte automatisch zu erkennen und zu transkribieren. Diese Inhalte können anschließend systematisch strukturiert, klassifiziert und referenziert werden. Die Referenzierung, die auf dem Vergleich der Volltexte untereinander basiert, wird die Datenqualität verbessern und letztlich Zeit sparen.


Im Rahmen eines geplanten Forschungsprojekts sollen die für die Text- und Musikerkennung erforderlichen Trainingsdaten von Spezialisten der Choralforschung auf Grundlage eines Korpus von rund 300 mittelalterlichen Choralhandschriften aus Österreich zusammengestellt werden. Die Weiterentwicklung und Anwendung der oben genannten innovativen Technologien (u.a. Deep Learning-Prozesse der KI-Forschung) auf dieses Handschriftenkorpus stellt eine umfassende Lösung mit weitreichendem Nutzen dar. Diese Sammlung ist ein ideales Trainingsmaterial. Ferner sollen die neu entwickelten online-Tools der wissenschaftlichen Community kostenlos zur Verfügung gestellt und offen zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus würde das Projekt es ermöglichen, ein bisher unzureichend dokumentiertes Korpus an Handschriften für das Studium zu erschließen.


Neben den oben beschriebenen eher technischen Aufgaben soll die musikwissenschaftliche Analyse des automatisch generierten Datenpools im Mittelpunkt der Projektarbeit stehen. Mit diesen Daten könnten erstmals vollständige Transkriptionen von Melodien von Messe- und Offiziumsgesängen eines umfassenden Korpus säkularer und monastischer Traditionen, die zumindest für den deutsch-österreichischen Raum repräsentativ sind, zur Verfügung gestellt werden.


Auf Grundlage dieses umfangreichen Datenbestands soll versucht werden, weitreichende Analysen am Repertoire und an den Melodien durchzuführen. Dabei werden automatisierte Repertoirevergleiche von normativen Daten aus Libri ordinarii (die in dem Vorprojekt Cantus Network generiert wurden) sowie die Inhalte der hier untersuchten musikpraktischen Quellen eine wichtige Rolle spielen. Eine weitergehende Analyse der Melodien könnte auch Hinweise für die Genese verschiedener melodischer Variationen liefern.