Um 1500 gab es in Mecheln, Belgien, einen burgundisch-habsburgischen Hof, geführt von Philipp dem Schönen und seiner Schwester Margarete von Österreich. Im Umfeld dieses Hofs wurden von etwa 1500 bis 1535 zahlreiche, oft sehr luxuriöse musikalische Handschriften angefertigt, die für Mitglieder und Bekannte der burgundisch-habsburgischen Familie bestimmt waren, z. B. für Maximilian I. und Personen, die für den Hof arbeiteten, wie die Fugger Familie aus Augsburg. Von diesen Handschriften sind derzeit noch etwa 50 Exemplare bekannt, wobei sich 13 Codices im Bestand der ÖNB befinden.
In der früheren Musikforschung wurden diese Handschriften mit Petrus Alamire, einem Sänger und Diplomat am Hof, verbunden und deswegen sind diese Handschriften als "Alamire-Codices" bekannt. In den letzten Jahren bezweifelt man, ob die Verbindung zwischen Alamire und dem Skriptorium immer sehr eng war. So ist jetzt deutlich, dass mehr als die Hälfte der bekannten Handschriften zwischen 1516 und 1520 kopiert wurden, als Alamire nicht nachweisbar dauerhaft am Hof war (SAUNDERS 2010a, 183-184). Flynn Warmingtons Forschungen über die Kopisten weisen Alamire als Kopist nur in 6 bis 14 Handschriften nach (KELLMANN 1999, 52). Die Unterschrift von Alamire und seinen Namen finden wir in 6 Handschriften, die zufällig alle in der ÖNB sind. Die anderen Kopisten bleiben bisher alle anonym.
Man unterscheidet drei Perioden. Die erste Periode läuft von etwa 1500 bis 1507/08 und ist die sogenannte "Kopist B"-Periode. In dieser Zeit war Alamire noch nicht in Mecheln tätig und man geht davon aus, dass es damals noch kein organisiertes Skriptorium gab (SAUNDERS 2010a, 193). Der Wiener Cod. 1783 stammt aus dieser Periode.
Die zweite Periode, die erste Alamire-Periode, läuft von 1507-1508, als Philipp der Schöne gestorben war und Margarete von Österreich die Führung übernommen hatte, bis 1518-1520, als Pierre de La Rue, ein Mitglied der Kapelle, gestorben und Karl V. von Mecheln nach Spanien übersiedelt war (KELLMANN 1999, 43). Mus. Hs. 15495 ist die erste Handschrift aus dieser Periode, die Cod. 4809, 4810 und 11778 gehören zu den letzten. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Ausstattung der Handschriften ab dem Ende dieser Periode nicht mehr luxuriös ist. Man verwendet Papier statt Pergament und die Illustrationen sind weniger imposant und prachtvoll.
Die dritte Periode, die zweite Alamire-Periode, läuft bis 1534, als dieser in Pension ging. In dieser Periode enthalten die Handschriften weniger Repertoire aus der Hofkapelle in Mecheln; auch verwendete man in dieser Zeit öfter Stimmbücher statt Chorbücher, wie z. B. die Stimmbücher Mus. Hs. 15941, 18746, 18825 und 18832.
Eine besondere Bedeutung haben die etwa 7 Handschriften, die für die Fugger-Familie angefertigt wurden und die sich nach der Auktion der Fugger-Bibliothek (1655) alle in der ÖNB befinden. Die Handschriften in dieser Gruppe verwenden alle ein Thema, z. B. Messen von Josquin des Prez oder fünfstimmige Lieder, und die Stimmbücher sind größtenteils von Alamire kopiert worden.
Für viele Kompositionen bilden die "Alamire-Handschriften" heute die einzige Überlieferungsquelle. Der größte Anteil des Repertoires stammt aus dem Umfeld der Hofkapelle und es ist also logisch, dass die Werke von Pierre de La Rue, der am Hof tätig war, am meisten kopiert wurden. Aber auch zahlreiche Werke von Jean Mouton, Josquin des Prez und anderen franko-flämischen Komponisten, die nicht am Hof in Mecheln tätig waren, sind in den Handschriften zu finden.
Die Wiener Handschriften wurden vollständig digitalisiert, die Bilder stehen online zur Verfügung. Die Vollbeschreibungen wurden von Oscar Verhaar (Wien / Utrecht) angefertigt (Klick auf die Signatur).
Codices der Handschriftensammlung:
Cod. 1783 | 1505ca | Perg 395x270 | 255 fol. | Messen und Messensätze | Digitalisat |
Cod. 4809 | 1518-1520 | Pap 392x280 | 148 fol. | Messen und Messensätze | Digitalisat |
Cod. 4810 | 1518-1520 | Pap 392x282 | 119 fol. | Messen | Digitalisat |
Cod. 9814 | 1519-1525 | Pap 296x215 | 21 fol. | Motetten, Chanson | Digitalisat |
Cod. 11778 | 1518-1520 | Pap 395x280 | 136 fol. | Messen und Messensätze | Digitalisat |
Cod. 11883 | 1475-1540 | Pap 287x210 | 325 fol. | Messen u. Messensätze, Mottete | Digitalisat |
Codices der Musiksammlung:
Mus.Hs. 15495 | 1508-1510 | Perg 550x375 | 105 fol. | Messen (Maximiliancodex) | Digitalisat |
Mus.Hs. 15496 | 1515-1516 | Perg 515x365 | 118 fol. | Messen Pierre de La Rue | Digitalisat |
Mus.Hs. 15497 | 1515-1519 | Perg 520x370 | 98 fol. | Messen | Digitalisat |
Mus.Hs. 15941 | 1519-1525 | Pap 190x275 | Tenor | Motetten | Digitalisat |
Contratenor | Digitalisat | ||||
Bassus | Digitalisat | ||||
Mus.Hs. 18746 | 1523 | Pap 180x245 | Superius | Motetten und Chansons | Digitalisat |
Tenor 1 | Digitalisat | ||||
Contratenor | Digitalisat | ||||
Tenor 2 | Digitalisat | ||||
Bassus | Digitalisat | ||||
Mus.Hs. 18825 | 1519-1525 | Pap 145x205 | Discantus | Motetten | Digitalisat |
Tenor | Digitalisat | ||||
Contratenor | Digitalisat | ||||
Bassus | Digitalisat | ||||
Mus.Hs. 18832 | 1521-1525 | Pap 140x205 | Discantus | Bicinien | Digitalisat |
Tenor | Digitalisat |